Du erwachst in einem Haus, das dir bekannt vorkommt, aber etwas ist anders. Die Wände atmen leise, Türen öffnen sich wie von selbst, und aus jedem Raum fließt ein schwaches Leuchten. Du spürst, dies ist kein gewöhnlicher Ort. Dies ist dein Familienhaus. Nicht wie es ist, sondern wie es in dir lebt.
Du gehst den Flur entlang. Bilder hängen an den Wänden, doch sie verändern sich, während du sie ansiehst. Mal zeigen sie lachende Gesichter, dann plötzliche Schatten. Ein Lächeln kippt zur Enttäuschung. Ein Blick wird kalt.
Im Wohnzimmer steht ein Tisch. Um ihn sitzen Schatten deiner Familie, Mutter, Vater, Geschwister. Ihre Gesichter sind undeutlich, ihre Stimmen wie Nebel. Sie reden, doch keiner hört zu. Worte prallen ab wie Regentropfen an Glas.
Ein Fenster öffnet sich, und ein sanfter Wind zieht dich hinaus. Du wirst getragen, durch Wolken, über Wälder, in eine andere Welt.
Du landest in einem Wald aus Erinnerungen. Jeder Baum zeigt einen Moment. Eine Szene, die du mit deiner Familie geteilt hast. Die schönen. Und die schwierigen. Du berührst einen Ast und siehst dich selbst, wie du schreist, weil niemand dich versteht. Dann einen anderen, deine Schwester weint, und du drehst dich weg.
Eine Stimme begleitet dich, sanft wie Moos:
“In jedem Streit liegt eine Sehnsucht. Wer zuhört, erkennt sie.”
Du folgst einem Licht. Es führt dich zu einer Brücke. Sie ist zersplittert, halb eingestürzt. Auf der anderen Seite steht das gleiche Haus, nur dunkler. Du willst zurückkehren, willst etwas klären, etwas sagen. Doch du kannst nicht hinüber.
Dann erscheint ein seltsames Wesen. Es hat das Gesicht eines Kindes und die Stimme eines alten Menschen. Es sagt:
“Jede Familie hat Risse. Aber du kannst anfangen, sie zu verstehen.”
Du bekommst drei Fenster. Sie sind flach, leuchtend, schwerelos. Jedes zeigt eine Perspektive, die du nie wirklich gesehen hast.
Im ersten Fenster siehst du deine Eltern. Nicht als Eltern, sondern als junge Menschen mit eigenen Ängsten. Mit unerfüllten Träumen. Mit Zweifeln. Du erkennst plötzlich: Sie kämpfen auch. Nicht immer gut. Aber nicht aus Gleichgültigkeit.
Im zweiten Fenster siehst du ein Geschwisterteil. Der Ärger, den du gespürt hast, wird nun zu Hilferufen. Zu dem Wunsch, gesehen zu werden. Gehört zu werden. Du spürst, dass euer Streit nicht aus Hass kommt. Sondern aus Nähe, die sprachlos wurde.
Im dritten Fenster siehst du dich selbst, nicht als Opfer, nicht als Täter, sondern als Mensch. Mit Reaktionen. Mit Fehlern. Mit Sehnsucht nach Frieden.
Du nimmst die Fenster und legst sie vorsichtig auf die Brücke. Sie werden zu neuen Planken. Mit jedem Fenster wird der Weg stabiler. Du gehst zurück.
Wieder im Haus. Deine Familie sitzt noch immer am Tisch. Aber diesmal siehst du nicht nur das, was falsch läuft, sondern das, was fehlt. Und was möglich ist.
Du setzt dich dazu. Sagst nichts. Aber dein Blick sagt: Ich will verstehen.
Ein erstes Lächeln taucht auf. Zögernd. Aber echt.
Die Wände des Hauses beginnen zu leuchten. Nicht hell. Aber warm. Ein Bild an der Wand zeigt dich, wie du sprichst, zuhörst, bleibst. Nicht, weil alles gut ist, sondern weil dir etwas an ihnen liegt.
Als du aufwachst, liegt Stille im Raum. Doch in dir ist etwas anders. Du denkst an deine Familie. An Worte, die fehlen. Und an solche, die du sagen könntest. Nicht, um alles zu lösen. Sondern um anzufangen.
Vielleicht ist heute ein guter Tag, um zuzuhören. Oder um ehrlich zu sagen: “Ich will’s besser machen. Nicht perfekt. Nur ehrlich.”
Und vielleicht ist das der erste Schritt.

