4. Reflexion: eigene Haltung, konkrete Gesprächssituationen & Herausforderungen
Gespräche mit Kindern und Jugendlichen über Krisen, Krieg, Terror oder andere schwer zu begreifende Ereignisse sind immer auch eine Herausforderung für Erwachsene. Nicht nur, weil die Themen belastend sind – sondern auch, weil sie an die eigenen Gefühle und Grenzen rühren. Wer mit jungen Menschen über Ängste, Unsicherheiten und Katastrophen spricht, bringt automatisch seine eigene Haltung, Erfahrung und emotionale Welt mit in das Gespräch.
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Dieses Modul richtet den Blick bewusst nach innen: Wie gehe ich selbst mit Krisen um? Welche Haltung bringe ich in solche Gespräche ein? Wo liegen meine persönlichen und fachlichen Grenzen? Und wie kann ich mit Situationen umgehen, in denen Kinder oder Jugendliche emotional überfordert sind – oder das Gespräch unerwartet eskaliert? Die ehrliche Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist entscheidend, damit man in schwierigen Gesprächen sprachlich und auch innerlich sicher und präsent bleibt.
Selbstreflexion: Wie gehe ich mit schlimmen Nachrichten um?
Bevor Jugendleiter*innen mit Kindern oder Jugendlichen über belastende Ereignisse sprechen, lohnt sich ein genauer Blick auf die eigene innere Landkarte. Denn jedes Gespräch ist ein Beziehungsprozess – und Beziehung wird stark durch Haltung geprägt.
Emotionale Reaktionen wahrnehmen
Nachrichten über Krieg, Terror, Umweltkatastrophen oder Gewalt lösen auch bei Erwachsenen Gefühle aus: Angst, Ohnmacht, Wut, Überforderung, Traurigkeit oder Hilflosigkeit. Diese Gefühle sind normal – doch sie wirken in Gesprächen oft unterschwellig mit. Deshalb ist es hilfreich, sich vor einem Gespräch zu fragen:
– Was löst das Thema bei mir persönlich aus?
– Welche Gedanken oder Bilder tauchen auf?
– Gibt es Situationen, in denen ich selbst sprachlos bin?
– Wovor habe ich Angst – inhaltlich oder im Gespräch?
Diese Reflexion muss nicht perfekt oder tiefenpsychologisch sein. Schon das bewusste Wahrnehmen eigener Reaktionen hilft dabei, sie besser einzuordnen – und nicht unbewusst in Gespräche hineinzutragen.
Eigene Überzeugungen erkennen
Auch die persönliche Haltung zu einem Thema beeinflusst das Gespräch. Wer eine klare politische Meinung zu einem aktuellen Kriegsgeschehen hat, steht in der Gefahr, unbewusst zu bewerten oder zu belehren. Kinder und Jugendliche brauchen aber keine Meinungen, sondern Orientierung, Einordnung und emotionale Begleitung.
Hilfreiche Reflexionsfragen sind:
– Welche Werte und Überzeugungen prägen meine Sicht auf das Thema?
– Kann ich in einem Gespräch Raum lassen für andere Perspektiven?
– Wo besteht die Gefahr, dass ich zu stark emotional oder moralisch reagiere?
Eine offene, neugierige Grundhaltung – ohne missionarischen Eifer – schafft den Rahmen für echte, ehrliche Gespräche.
Professionelle Rolle und persönliche Grenze: Was ist mein Auftrag – und was nicht?
Jugendleiterinnen sind wichtige Bezugspersonen, besonders in Zeiten von Unsicherheit. Doch sie sind keine Therapeut*innen, keine Expert*innen für Traumapädagogik und keine Allwissenden. Das zu erkennen – und offen zu benennen – ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Klarheit.
Die Rolle bewusst gestalten
Die Aufgabe von Jugendleiter*innen ist es, präsent zu sein, zuzuhören, Orientierung zu geben und einen geschützten Rahmen zu schaffen. Es geht nicht darum, Probleme zu lösen oder Gefühle “wegzumachen”. Vielmehr geht es darum, Kindern und Jugendlichen zu helfen, mit dem, was sie empfinden, nicht allein zu sein.
Diese Rolle braucht Klarheit – sowohl nach außen (gegenüber der Gruppe), als auch nach innen (im eigenen Selbstbild). Ein unterstützender Leitsatz könnte lauten:
Ich bin da, ich höre zu, ich begleite – aber ich muss nicht alles wissen oder lösen.
Die eigenen Grenzen erkennen
Grenzen zeigen sich an verschiedenen Stellen:
Emotionale Grenzen: Wenn Gespräche persönlich zu nahe gehen, etwa durch eigene Erfahrungen oder Ängste.
Fachliche Grenzen: Wenn es um psychische Symptome geht, die eine therapeutische Begleitung notwendig machen.
Räumliche oder zeitliche Grenzen: Wenn der Rahmen einer Gruppe nicht ausreicht, um ein Thema sicher zu bearbeiten.
In solchen Fällen ist es absolut legitim (und notwendig), zu sagen: “Ich merke, dass dieses Thema sehr groß ist. Ich kann dir zuhören, aber ich glaube, hier wäre es gut, wenn du mit jemandem sprichst, der sich noch besser auskennt.” – und ggf. geeignete Unterstützungsangebote zu nennen.
Wenn es schwierig wird: Umgang mit herausfordernden Gesprächssituationen
Nicht jedes Gespräch verläuft ruhig und geordnet. Gerade wenn es um existenzielle Themen geht, werde Emotionen heftig – bei den Kindern oder Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen.
Emotionale Überforderung – Tränen, Wut, Schweigen
Reaktionen verstehen: Kinder und Jugendliche verarbeiten Gefühle unterschiedlich. Manche weinen, andere reagieren mit Rückzug, manche zeigen Wut oder Trotz. Hinter all dem steht oft Angst – oder das Bedürfnis nach Sicherheit.
Was hilft?
- Nicht bewerten oder bremsen. Emotionen dürfen sein.
- Raum geben. Manchmal hilft es, einen stillen Ort aufzusuchen oder erst einmal gemeinsam zu atmen.
- Benennen, was passiert. Etwa: “Ich sehe, das macht dich gerade sehr traurig. Das ist völlig in Ordnung.”
- Körperliche Regulation fördern. Bei jüngeren Kindern kann Bewegung helfen (Spaziergang, Ballspiel), bei älteren Atemübungen oder kreative Methoden.
Wichtig ist: Emotionale Reaktionen sind kein “Fehler” im Gespräch – sondern oft ein Zeichen dafür, dass etwas Wesentliches berührt wurde.
Eskalation in der Gruppe
Gerade in Gruppensituationen können Gespräche kippen – etwa wenn unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen oder einzelne Jugendliche provozieren. Solche Situationen sind schwierig, weil sie emotionale und gruppendynamische Kompetenzen erfordern.
Mögliche Ursachen:
– Überforderung durch das Thema
– Ablenkung von eigenen Ängsten
– Geltungsbedürfnis
– Gruppendruck oder Rollenverhalten
Was hilft?
- Klarer Rahmen. Zu Beginn sagen, worum es geht – und was nicht erwünscht ist wie Beschimpfungen und Verharmlosung von Gewalt.
- Moderation. Beiträge lenken, unterbrechen, wenn nötig deeskalieren.
- Raum für Emotionen, aber auch für Grenzen. Etwa: “Ich merke, das Thema beschäftigt viele. Aber wir achten hier darauf, respektvoll zu bleiben.”
- Nachgespräch anbieten. Wenn jemand auffällig reagiert, kann ein Gespräch unter vier Augen später hilfreich sein.
Sprachlosigkeit – was tun, wenn niemand spricht?
Auch das kommt vor: Ein Thema wird eröffnet, aber niemand sagt etwas. Hier ist Geduld gefragt. Schweigen muss nicht bedeuten, dass niemand etwas denkt – sondern vielleicht, dass noch kein sicherer Rahmen da ist.
Was hilft?
- Offene, niederschwellige Fragen stellen. Etwa: “Habt ihr schon mal etwas darüber gehört?” oder “Wie ging es euch, als ihr die Nachricht gesehen habt?”
- Eigene Unsicherheit benennen: “Das ist gar nicht so leicht, ich weiß. Ich habe selbst überlegt, wie ich darüber reden kann.”
- Alternativen anbieten. Schreiben, malen, Collagen gestalten oder auch nonverbale Methoden (z. B. Symbolkarten). Wichtig: Nicht jedes Gespräch muss sofort tief gehen. Vertrauen wächst mit der Zeit – auch in der Gesprächskultur.
Selbstfürsorge: Wer gut begleiten will, muss sich selbst im Blick behalten
Gespräche über Krieg, Angst und Krisen fordern – emotional, psychisch und manchmal auch körperlich. Wer in solchen Situationen für andere da ist, braucht auch selbst einen Ort zum Durchatmen, Reflektieren und Kraftschöpfen.
Praktische Impulse zur Selbstfürsorge:
– Supervision oder kollegialer Austausch nutzen – um schwierige Gespräche zu besprechen.
– Eigene Belastungsgrenze ernst nehmen.
– Sich bewusst Zeiten ohne Nachrichten gönnen.
– Regelmäßige Erholungsinseln schaffen. Ob Spaziergang, Sport, Musik oder einfach Ruhe – wichtig ist, dass es bewusst passiert.
– Erfolge sehen. Oft hilft es, sich daran zu erinnern: “Ich konnte da sein. Ich habe zugehört. Ich habe gehalten.” Das ist mehr, als es manchmal scheint.
Checkliste
– Eigene emotionale Reaktionen bewusst wahrnehmen – was macht das Thema mit mir?
– Persönliche Haltung und Werte reflektieren – ohne missionieren
– Die eigene Rolle als Jugendleiter*in klar definieren – zuhören, begleiten, nicht therapieren
– Grenzen erkennen – emotional, fachlich, zeitlich
– In schwierigen Situationen ruhig bleiben: Emotionen benennen, Raum geben, Rahmen halten
– Eskalationen in Gruppen moderieren – klare Regeln und Respekt betonen
– Schweigen zulassen und vorsichtig öffnen – alternative Ausdrucksformen nutzen
– Eigene Ressourcen pflegen – Supervision, Austausch, Erholung
– Hilfe holen, wenn etwas überfordert – das ist professionell, nicht schwach
– Vertrauen in den Prozess: Gespräche sind Beziehung – nicht Lösung auf Knopfdruck
Wer mit Kindern und Jugendlichen über schwierige Themen spricht, ist nicht nur Begleiter*in – sondern auch Mensch. Die eigene Haltung, die Bereitschaft zur Reflexion und der achtsame Umgang mit den eigenen Grenzen sind zentrale Voraussetzungen für gute Gespräche. Dieses Modul stärkt die innere Sicherheit – damit auch in äußeren Krisenzeiten Klarheit, Präsenz und Mitgefühl möglich bleiben.