Ein Urlaub auf dem Land macht Spaß, besonders wenn das Wetter mitspielt. Viele Sagen ranken sich über Rumänien, einen Ort, den Tom und Hendrik zum ersten Mal in ihrem Leben sehen. Die beiden Freunde freuten sich bereits seit Wochen auf den Ausflug, den sie zusammen mit ihren Eltern geplant hatten. In einem Bauernhof verbringen sie zwei Wochen fernab von Fußballplatz und Schwimmbad, dürfen dafür die Natur erkunden und zusammen Abenteuer bestehen. Bereits im Vorfeld haben sie sich Gedanken darüber gemacht, was sie als Erstes machen werden. Sollte es ein Tag am Fluss werden oder wollten sie lieber auf Kirschbäume klettern? Es sollte sogar eine uralte Burg geben, die zwar nur noch als Ruine besteht, aber perfekt für eine Erkundung sein wird. Natürlich hatten beide das verfallene Mini-Schloss als Erstes ins Auge gefasst und sprangen nach der ersten, geruhsamen Nacht in neuen Betten in ihre Schuhe, packten sich ihre Rucksäcke und gingen los. Die Burg war nicht weit entfernt, vielleicht waren es ein oder zwei Kilometer, aber die Reise dorthin unterbrachen sie immer wieder, um Käfer zu sammeln oder Blödsinn zu machen, durch das Korn zu rennen oder Purzelbäume zu schlagen. Endlich angekommen, war das Gemäuer kleiner als gedacht, selbst für zwei Elfjährige wie sie es waren.
Überall bröckelten Steine oder lagen auf dem Boden verteilt, als hätte die Burg einen Krieg miterlebt. Meter für Meter erkundeten sie das Areal. Es gab kaum noch ein richtiges Dach und in einigen Jahren, wenn die Natur sich den Rest geholt hätte, würde sicher niemand mehr erkennen, dass auf diesem Platz solch eine Ruine stand. Dann hielt Tom inne. Auf dem Boden glitzerte etwas. Zwischen Steinblöcken und morschem Gehölz reflektierte irgendetwas ganz deutlich die Sonnenstrahlen. Er griff in eine dunkle Vertiefung und zog ein metallisches Objekt heraus. Ruß, Dreck, Spinnweben und Rost gaben eine Taschenuhr aus Metall frei, die an einer Kette in seiner Hand baumelte und die beiden Jungs zum Staunen brachte.
„Wer die wohl verloren hat?“, fragte Hendrik. „Vielleicht gab es hier einmal Könige oder Ritter oder irgendwelche Adeligen, die hier gewohnt haben“, meinte Tom. „Meinst du etwa Ritter hätten schon Taschenuhren bei sich geführt?“, entgegnete Hendrik. Auf ihrer Rückseite war ein Kreuz geritzt. Es schien nicht so, als wurde es fachmännisch als Muster angelegt, sondern durch etwas wie eine spitze Klinge erschaffen. Die Uhr sprang auf, in ihrem Inneren war Platz für ein Foto. Zum Vorschein kam das schwarzweiße Bild eines alten Mannes, der grimmig und leicht gebückt schaute. Sein Mantel sollte sein Alter verhüllen und ihn edel erscheinen lassen, doch für Tom wirkte er nur wie ein gruseliger Opa. „Klasse, jetzt haben wir eine alte Uhr von einem alten Typen gefunden.“, schüttelte Tom den Kopf und warf sie Hendrik zu. Für einen kleinen Ausflug fand er diesen „Schatz“ gar nicht so schlecht. Sie gingen weiter und entdeckten noch Scherben, Holzreste von Möbeln und hier und dort ein paar Fetzen Stoff, jedoch nichts von Wert.
Am Abend saßen alle beim Essen. Tom und Hendrik erzählten von der Ruine und der Taschenuhr. Beide Elternpaare versuchten Interesse zu heucheln, aber amüsierten sich viel mehr über die Abenteuer ihrer Kinder. Anders empfand ihr Gastgeber, ein älterer Herr mit Schirmmütze und Weste, der trotz grauer Haare noch immer jeden Morgen um fünf Uhr aufstand, um die Hühner zu füttern und die Ernte einzuholen. Er ging auf beide humpelnd zu und nahm die Uhr in seine Hand. „Darf ich einmal sehen?“ Argwöhnisch beäugte er die Rückseite, klappte sie auf und zog beide Augenbrauen hoch, als er das Foto sah. „Von solchen Geschichten solltet ihr euch besser fernhalten, Burschen.“ Mit gestrecktem Zeigefinger fuchtelte er plötzlich zornig in der Luft herum. „Früher war dieser Mann eine gefürchtete Person, der die Menschen aus dem Weg gegangen sind“, erzählte er weiter. „Warum das denn?“, fragte Hendrik. Der alte Mann beugte sich zu ihm hinunter und legte die Hände zusammen. „Weil er nachts durch die Dörfer schlich und Leute verschwanden. Es konnte ihm nichts nachgewiesen werden, aber viele munkeln… Er sei ein Vampir. So wie Dracula, eine alte Legende…“ Alle lachten. „Ach Vampire sind doch nur Märchen“, behauptete Tom, der alte Mann entgegnete: „Ach wirklich?“.
Im Bett grübelte Hendrik darüber nach, was der alte Mann sagte. Vampire und so. Dabei drehte er die Taschenuhr in seinen Händen und schaute an die Decke, denn sein Nachtlicht auf der Kommode formte daraus ein Schattenspiel. Auf einmal huschte ein weiterer Schatten hinweg. Was war das? Tom konnte es nicht sein, denn er schlief in einem anderen Zimmer. Hendrik fühlte sich alleine und bekam Angst.
Nur zaghaft traue er sich den Kopf zu wenden und sah seine Vorhänge tanzen. Der Wind des offenen Fensters bewegte sie. So einfach war das. Erleichterung überkam ihn und fast musste er lachen. Sicherheitshalber stand er auf und schloss das Fenster und wollte sich wieder hinlegen, als schon wieder ein zweiter Schatten über die Zimmerwand sauste. Im Augenwinkel erkannte er eine Gestalt. Die Größe konnte er nur schwer schätzen, aber sie bewegte sich ganz sicher in der hinteren Zimmerecke. War es der Vampir? Wollte er sich seine Uhr zurückholen? Was sollte er nur machen? Mit einem Satz sprang der Schatten an ihm vorbei durch die offene Zimmertüre. Polternd hörte er, wie dieser durch den Flur die Treppe nach unten rannte. In diesem Moment wusste Hendrik nicht, was ihn geritten hatte, doch er war entschlossen, die Verfolgung aufzunehmen. Mehr als die Angst interessierte ihn die Wahrheit hinter den Vampiren.
Schritt für Schritt schlich er sich zur Küche, von dort kamen die Geräusche. Irgendetwas hantierte dort. Warum wurden die anderen nicht wach? Hatte der Vampir sie etwa schon… nein, soweit wollte Hendrik nicht denken. Dann sah er es. Etwa so groß wie er und umhüllt mit Stoff stand es da und wartete nur auf ihn. Es knurrte. Wenn Hendrik aber eins aus den Filmen über Vampire, die er kannte, gelernt hatte, dann war es, dass sie Licht fürchteten. Oder war es Tageslicht? Egal, er entschloss sich den Lichtschalter zu betätigen und laut zu rufen. „Erwischt!“, schrie er, während es hell wurde. Das seltsame Objekt schien doch nicht ganz so groß zu sein. Die Kreatur hockte auf der hinteren Rückenlehne eines Küchenstuhls. Nur ein Stofftuch trennte Hendrik von der Wahrheit. Zaghaft zog er am weißen Zipfel, den er erwischen konnte und ein „Miau“ entgegnete ihm. Es war die Katze des alten Mannes. Sie musste wohl in seinem Zimmer geschlafen haben und er hatte sie mit samt ihres Stofftuches aufgeschreckt. Sie ließ sich kraulen und auf den Arm nehmen, dann setzte er sie nach draußen vor die Türe. Ein kurzer Blick in den nächtlichen Abendhimmel, danach wollte er schlafen gehen. Flatternd zog ein kleiner Vogel seine Runden. Wie schön, dachte Hendrik. Dann fiel ihm ein, dass nachts eigentlich keine Vögel am Himmel zu sehen sind…