Gruselgeschichte für Kinder: Das Es

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3.Mai 1997, 09:00 Uhr.

Es war ein regnerischer Aprilwettertag, als Luisa eine recht merkwürdige Botschaft bekam. Es war Samstag und sie hatte heute keine Schule. Als sie im kalten Badezimmer vor dem Waschbecken stand und sich die Zähne putzte, hörte sie, wie unten im Erdgeschoss jemand an der Haustür am Briefkasten herumklapperte. Sie dachte sich nichts weiter dabei. Sie spülte ihren Mund aus, wusch sich ihr Gesicht und rannte, nackt wie sie war, über den Flur in ihr Zimmer, um dann ratlos vor den offenen Kleiderschrank zu stehen.

Luisa hatte heute eine Verabredung. Sie wollte sich um 11:00 mit Lukas treffen. Lukas war toll. Die beiden hatten sich im Januar kennen gelernt. Da waren sie mit ihren Eltern in Münster gewesen, um auf dem Aasee Schlittschuh zu laufen. Sie war ihm direkt in die Arme gefahren und schon hatten sie dicht nebeneinander auf dem Eis gelegen. Wie in einem kitschigen Liebesfilm. Aber Luisa war das ja so peinlich gewesen, dass sie aus dem Stottern gar nicht wieder raus gekommen war. Und das war ja noch peinlicher gewesen. Lukas fand das niedlich, hatte sie angelacht und ihr auf die Kufen geholfen. Seitdem schrieben sie sich regelmäßig E-Mails und telefonierten miteinander. Und dreimal hatten sie sich getroffen. Das letzte Mal waren sie im Café „Skulptura“ gewesen. Aber es blieb bei einer Freundschaft, nichts weiter, obwohl Luisa sich schon etwas Näheres gewünscht hätte.

Gedankenverloren stand sie also vor dem Schrank und starrte hinein. Als sie sich dann endlich entschieden hatte, zog sie sich schnell an und polterte die Treppe herunter. Als sie dann ihr Frühstück hinunterwürgte und sich die Schuhe zuband, war es bereits 10:00 Uhr. Jetzt musste sie sich beeilen, denn der Bus nach Münster kam jeden Augenblick. Lukas wollte sie heute am „Inselbogen“ abholen. Irgendwo in der Nähe wohnte er mit seinen Eltern und einem Bruder.
Luisa stürmte heraus, stülpte sich die schützende Kapuze über den Kopf und zog die Haustür zu. Da erstarrte sie in der Bewegung. Der Türknauf war rot. „Na das war ja ’n schlechter Scherz,“ dachte sie und wollte sich wieder abwenden. Da entdeckte sie einen Papierfetzen, der vom Regen durchweicht und mit roten Flecken aus dem Briefkasten herausragte. Langsam, zögernd zog sie den völlig zerknitterten Zettel heraus. Sie schaute verwirrt um sich. Niemand war zu sehen. Sie faltete den Zettel auseinander und las:

Hilf mir Luisa. Es tötet mich.
Im Wald, bei den Fichten,
wo wir die Rehe Beobachteten.
Schnell, ehe es zu spät ist.
es ist schon ganz nahe.

Luisa stand da wie zu einer Salzsäule erstarrt und schaute auf den Zettel in ihren zittrigen Händen. Sie las diese seltsame Botschaft noch ein paar Mal. Angst schlich ihr ins Genick. Sie fröstelte. Was sollte sie tun? Sie fühlte sich so hilflos. Blitze zuckten in ihrem Gehirn und ließen keinen klaren Gedanken zu. Dann, nach einer endlos langen Zeit, zerknüllte Luisa den Zettel und stopfte ihn in ihre Jackentasche, schob ihr Fahrrad aus dem Schuppen radelte los.

„Guten Morgen,“ sagte der Nachbar, der gerade sein Auto aufschloss. Aber Luisa beachtete ihn gar nicht. Sie sauste auf den nassen Straßen Richtung Wald im Süden von Nottuln. Ein paar Mal wäre sie um ein Haar weggerutscht. Der Regen schlug ihr ins gerötete Gesicht. Sie wusste nicht, was denken sollte. Nur eines wusste sie: „Lukas braucht meine Hilfe.“

Als sie den Wald erreichte, schob sie stolpernd das Fahrrad hinein und stellte es an den nächsten Baum. Jetzt waren es noch ein paar hundert Meter bis zur Fichtenschonung, wo sie die Rehe gesehen hatten, als Lukas sie letzten Monat besucht hatte. Ihr Herz klopfte so sehr, als ob es aus ihrer Brust springen wollte. Sie rannte ein ganzes Stück in den Buchenwald hinein, blieb abrupt stehen und horchte mit angehaltenem Atem. Kein Laut war zu hören, nur das Plätschern des Regens auf dem Blätterdach. Sie sah nicht die Gefahr, die auf sie wartete. Zwei rot unterlegte Augen verfolgten jeden ihrer Schritte.

Nichts ahnend ging sie jetzt durch das tiefe nasse Laub. Vor sich sah sie die dunklen Fichten und dann sah sie noch etwas. Was war das? Ein Schatten, der langsam aus der Fichtenschonung auf sie zukam. Schnell sprang sie hinter eine Buche und hockte sich in das nasse Laub. Ihre Hose war eh schon völlig durchnässt, aber das war ihr in diesem Augenblick egal. Sie hielt sich am glatten Stamm der Buche fest. Die Nässe kroch ihr in die Ärmel. Sie zitterte am ganzen Körper. Was war das, was sie da gesehen hatte? Es war kein Mensch, aber auch kein Tier. Sie war den Tränen nahe, als sie langsam aus der Hocke ging und in die Richtung schaute, aus der diese Kreatur herüberkam. Aber sie sah nichts. Da spürte sie im Nacken einen leichten Windzug. Noch einen Windzug. In einer Regelmäßigkeit, wie es nur ein Atem sein kann. Sie wagte sich nicht zu bewegen. Alles war in ihr erstarrt.

„Luisa,“ flüsterte eine Stimme hinter ihr. Das war Lukas’ Stimme. Sie drehte sich mit einem Ruck zu ihm um und sah in seine panikerfassten Augen.

„Lukas!“ erwiderte sie und schloss ihn in die Arme. Sie spürte seinen zitternden Körper an ihrem. Sie umarmten sich lange mit geschlossenen Augen. Als Lukas jedoch seine Augen öffnete, sah er, was er nicht sehen wollte. Eine fleischige, knorpelige Hand auf der Rinde der Buche. Ein Beben ging durch die Erde, als die Buche zu schwanken begann. Lukas und Luisa stolperten weg von der Buche und landeten im nächsten Brombeergebüsch. Sie sahen sich um und erschraken. Die dicke Buche wurde aus der Erde gerissen, wie ein Unkraut aus einem Blumenbeet. Erde spritzte und die Wurzeln peitschten durch die Luft. Mit einem Donnern stürzte der Baum zu Boden und nahm ein paar junge Bäume auf diesem unaufhörlichen Weg mit.

Da stand es nun. Das Ungeheuer. Die Adern in seinen Augen pulsierten. Wie ein Gorilla stand es da. Seine langen haarigen Arme und zu Fäusten geballten, Krallen bewehrten, Hände stemmte es in den Boden. Ein massiger Kopf thronte auf einem kurzen, sehnigen Hals.

Seine Nase glich der Schnauze eines riesigen Wildschweins. Große spitze Hauer ragten bedrohlich aus seinem Maul. Sein riesiger Brustkorb hob und senkte sich. Es stand nur da und beobachtete sie mit ruhiger Gelassenheit. Aber man spürte, dass jede seiner Sehnen bis zum zerreißen gespannt war. Bereit zum letzten, vernichtenden Sprung. Luisa und Lukas hielten sich Arm in Arm in den Dornen, die ihre Haut aufkratzten. Da wuchsen die Brombeerranken plötzlich über sie hinweg. Die beiden sprangen auf, um noch einmal die letzte Chance zu ergreifen, wegzurennen. Dornen drangen tief in ihre Haut, aber sie schafften es, zu entfliehen. Mit großen Sprüngen verfolgte die Bestie die beiden in Panik Fliehenden. Sie erreichten den Waldrand, Da wurde Luisa am Bein gepackt und in die Luft geschleudert. Lukas stürzte zu Boden und schlug mit dem Gesicht gegen einen Baumstumpf. Blut rann ihm übers Auge und färbte seinen Blick rot. Luisa hing kopfüber in den Klauen der Kreatur und wurde unsanft auf den Boden fallen gelassen. Lukas und Luisa lagen nebeneinander auf dem moosbewachsenen Boden. Jetzt kam dieses Monstrum über sie. Ganz nah. Sie rochen seinen fauligen Atem als es sein mit abgescheuerten Zähnen bestücktes Maul öffnete. Ein Röcheln kam aus seiner Kehle. Seine fette, braune Zunge leckte über die Zähne. Reste von Würmern und Käfer hingen ihm in den Zwischenräumen. Der Atem war betäubend.

Da schnaubte es und sprach mit rasselnder, tiefer Stimme:

„Dies ist mein Wald. Kommt nie wieder hier her. Das nächste Mal schlürf ich eure Eingeweide.“

Es drehte sich um, machte zwei Sprünge und löste sich zu Staub auf, der in die Luft empor stob, um sich gleich darauf in eine Schar Spatzen zu verwandeln die sich im Geäst verlor. Der Regen hatte aufgehört. Luisa und Lukas lagen noch immer auf dem Waldboden. Arm in Arm.

Nach einer endlos langen Zeit kamen sie bei Luisas Zuhause an. Sie hatten auf dem Weg kein einziges Wort gesprochen. Sie standen da und schauten sich tief und lange in die Augen. Sie hielten sich an den Händen. Ihre Gesichter kamen sich langsam näher… Da huschte etwas großes, schwarzes durch den Garten.

Ende

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Volker Stanko
Volker Stanko
Ich bin Volker Stanko vom DPSG-Stamm Nottuln. Ich bin schon als Wölfling 1981 in Nottuln angefangen und bin nun schon fast 20 Jahre Leiter in allen Stufen.

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über mich

Daniel
Hallo, schön, dass du hier vorbeischaust. Ich bin der Kopf hinter dem Jugendleiter-Blog und bin seit über 10 Jahren in der Jugendarbeit aktiv, habe viele Jahre einen Verband geleitet und blogge hier über meine Erfahrungen aus mehr als 100 Freizeittagen und 200 Gruppenstunden. Meine besten Spiele und Ideen sind als Bücher erschienen.

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